Adolf Schlatter: Leben, Werk, Wirkung

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Kindheit und Jugend in St. Gallen (1852–1871)

Adolf Schlatter entstammte einer alteingesessenen St. Gallischen Familie, die sich bis in das 15. Jahrhundert zurückverfolgen lässt und ungewöhnlich viele christliche Persönlichkeiten hervorgebracht hat. Seine Großmutter Anna Schlatter (1773–1826) hatte engen Kontakt zu führenden Männern der Erweckung (wie Lavater, Jung-Stilling und Boos) und zeichnete sich durch eine bemerkenswerte ökumenische Weitherzigkeit aus: Der namhafte katholische Moraltheologe und spätere Regensburger Bischof Johann Michael Sailer verbrachte eine Zeit lang zusammen mit katholischen Freunden regelmäßig seinen Urlaub in St. Gallen, um mit der evangelischen Anna Schlatter und ihren Schwestern geistliche Gemeinschaft zu pflegen. Unter ihren zahlreichen Nachkommen (sie selbst hatte 13 Kinder) zählte man bis zum 2. Weltkrieg allein 6 Missionare und 66 Theologen! Die beiden bekanntesten von ihnen waren Adolf Schlatter und dessen Vetter Theodor Zahn (1838–1933), der neben seinen patristischen Studien vor allem durch seine neutestamentlichen Kommentare Bedeutung erlangte.

Adolf Schlatter wurde am 16. August 1852 in St. Gallen als siebentes Kind des Kaufmannes Stephan Schlatter geboren. Die von der Erweckung bestimmte lebensnahe Bibelfrömmigkeit seines Elternhauses hat Schlatter ein Leben lang tief geprägt. Als über 70-jähriger bekannte er: „Von den Eltern erhielt ich die Bibel, das Gebet, den Sonntag, die Verdeutlichung dessen, was die Worte Glaube und Liebe meinen.“ Die Eltern „lebten vor uns und für uns in hellem Licht und … ich sah von Anfang an, wie ein vor Gott geführtes Leben verläuft. Die Kraft, mit der wir Kinder vom Glauben der Eltern umfasst wurden, war die Voraussetzung und Wurzel, aus der meine eigene Lebensgeschichte erwuchs.“1 Der prägende Einfluss von Schlatters Elternhaus ist von kaum zu überschätzender Bedeutung für das Verständnis seiner theologischen Entwicklung. Hier wurden die geistlichen Fundamente gelegt, denen er – bei aller später notwendigen Abgrenzung, Weiterführung und Korrektur des elterlichen Erbes – lebenslang treu blieb. Zwei Aspekte verdienen besondere Hervorhebung:

Schlatters Eltern verstanden es offenbar, den Ernst der Christusnachfolge so überzeugend mit der Freude an Gottes Schöpfung und Erlösung zu verbinden, dass ihre große Kinderschar (drei Knaben und fünf Mädchen) das Christsein nicht als drückende Last, sondern als freudiges Geschenk erlebten. Durch ihren sehr naturverbundenen Lebensstil (Wandern, Kennenlernen der heimischen Tier- und Pflanzenwelt) wurde Adolf Schlatter nicht nur für den Rest seines Lebens zu einem großen Kenner und Liebhaber von Pflanzen, sondern zu einem Theologen, der lebenslang eine tiefe Freude an der Herrlichkeit der Schöpfung Gottes empfand – eine Freude, die ihm zu jener ungewöhnlichen Schöpfungs bejahung und theologischen Würdigung der Natur verhalf, die ein hervorstechendes Merkmal seiner Theologie darstellt.

Von nicht minder weitreichender Bedeutung für Schlatters Leben und Denken war die konfessionelle Trennung seiner Eltern und die vorbildliche Weise, wie sie damit fertig wurden: Schlatters Vater hatte sich von der reformierten Kirche getrennt, wiedertaufen lassen und war 1837 Mitbegründer einer baptistisch geprägten Gemeinde in St. Gallen geworden. Schlatters Mutter dagegen verblieb aus Gewissensgründen mit ihren Kindern in der Landeskirche. So schmerzlich die konfessionelle Trennung der Eltern für die Familie auch war, prägender wurde für Schlatter die Erfahrung, dass die tiefe Verbundenheit der Eltern im Glauben und in der Liebe durch die kirchliche Differenz nicht wesentlich beeinträchtigt wurde. Für Schlatters theologischen Werdegang wurde diese Erfahrung zum Schlüsselerlebnis: „Zur Gemeinschaft des Glaubens gelangten die Eltern trotz ihrer kirchlichen Trennung deshalb, weil ihr Glaube nicht an der Kirche, sondern an Jesus entstand … Jesus wurde mir als der entscheidende, alles bestimmende Grund des Glaubens gezeigt.“2 Am Beispiel der Eltern wurde Schlatter ein für allemal die Notwendigkeit einer Unterscheidung von persönlichem Glauben und theologischer Lehre (von „fides qua“ und „fides quae“) deutlich. Die von den Eltern glaubhaft demonstrierte Erfahrung, dass die Einheit des Glaubens und der Liebe auch bei Bekenntnisverschiedenheit fest gehalten werden kann, hat Schlatter zeitlebens davor bewahrt, ein engherziger konfessionalistischer Theologe zu werden.

Obwohl die finanziellen Möglichkeiten des Elternhauses recht bescheiden waren, durfte Adolf Schlatter von 1865 bis 1871 das städtische Gymnasium besuchen. Hier fiel er von Anfang an durch seine überragende Begabung auf. Ohne große Anstrengung erreichte er in allen Fächern und Klassen (mit Ausnahme des Singens) die beste Note. Am hervorstechendsten war seine außergewöhnliche Sprachbegabung, die einen seiner Lehrer, den späteren Basler Professor für vergleichende Sprachwissenschaft Franz Misteli, dazu bewog, ihm jeden Sonntag Privatunterricht in Griechisch zu erteilen. Im Gymnasium lernte Schlatter die klassischen Sprachen Latein und Griechisch, dazu Französisch und (auf freiwilliger Basis) Englisch und Hebräisch. Die Gymnasialzeit erweckte in ihm nach seinen eigenen Worten „den wissenschaftlichen Willen“3, und legte den Grundstein für jene hervorragende philologische Bildung, die für seine spätere exegetische Arbeit kennzeichnend wurde. Die zu jener Zeit erfolgte erste Begegnung mit dem theologischen Liberalismus und der idealistischen Philosophie vermochte die von den Eltern vermittelte Bibelfrömmigkeit des Gymnasiasten zwar nicht zu erschüttern, verunsicherte ihn aber immerhin so, dass er sich eine Zeit lang dem mütterlichen Wunsch verschloss, Theologie zu studieren. Aus Angst, die Theologie könne seinen Glauben erschüttern, zog er es vor, das Studium der Philologie zu ergreifen, bis ihn eine seiner Schwestern darauf aufmerksam machte, dass ein aus Feigheit geborenes Nein zum Theologiestudium aus dem Unglauben käme. Diese Bemerkung seiner Schwester machte dem jungen Schlatter blitzartig deutlich, wie unredlich und glaubenslos seine Einstellung war. Die daraufhin gefällte Entscheidung für das Studium der Theologie empfand er als eine so unwiderrufliche Indienstnahme für Gott, dass sie für ihn geradezu den Charakter einer „Bekehrung“ hatte.

1

Rückblick auf meine Lebens­arbeit, Stuttgart 21977, 12.

2

Ebd. 20.

3

Ebd. 27.

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