Adolf Schlatter: Leben, Werk, Wirkung

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Theologiestudium in Basel und Tübingen (1871–1875)

Im Sommersemester 1871 begann Schlatter mit dem Theologiestudium in Basel. Sein Studium war von Anfang an durch die rückhaltlose Bereitschaft gekennzeichnet, sich mit den Fragestellungen der wissenschaftlichen Theologie ernsthaft auseinanderzusetzen. Im zweiten Semester geriet er in eine sehr ernste Glaubenskrise, welche ihn – wenigstens einen Moment lang – sogar an der Existenz Gottes zweifeln ließ. Schlatter hat in jener Glaubenskrise die Erfahrung Luthers gemacht: Die „Anfechtung lehrt aufs Wort merken“ (Jes 28,19 nach der nichtrevidierten Lutherübersetzung). Ausschlaggebend für die Überwindung jener Krise war für ihn kein plötzliches Erlebnis, sondern der kontinuierliche Umgang mit der Heiligen Schrift, den er auch in der Zeit der Anfechtung nicht unterbrach.

Schlatters Studium war während seiner vier Basler Semester denkbar breit angelegt: Neben den theologischen Vorlesungen hörte er mehrere Philosophen (darunter den berühmten Philosophen Friedrich Nietzsche), den berühmten Historiker Jakob Burckhardt und den Arabisten Socin. Im Mittelpunkt seiner ausgedehnten philosophischen Studien stand die Philosophie der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Idealismus. Der Einfluss der idealistischen Philosophie auf Theologie und Geistesleben sollte ihn ein Leben lang intensiv beschäftigen. Der Ertrag der Basler Studienzeit bestand für Schlatter vor allem in einem breiten historischen Wissen und der bleibenden Einsicht in die Geschichte als wesentliche Dimension menschlichen Lebens und Denkens. Einen tieferen Einfluss auf seine theologische Überzeugungen aber vermochte keiner der Basler Philosophen und Theologen zu entfalten.

Erst in seinen drei Tübinger Semestern (Sommersemester 1873 bis Sommersemester 1874) begegnete Schlatter einem theologischen Lehrer, bei dem ihn Persönlichkeit und Theologie gleichermaßen in den Bann schlugen. Im schwäbischen Biblizisten Johann Tobias Beck fand er zum ersten Mal einen Theologieprofessor, dessen geistliche Existenz und wissenschaftliche Arbeit er als ungekünstelte Einheit empfand: „Er war im Hörsaal Bekenner und Forscher zugleich und machte uns sichtbar, dass er das, was er dachte, glaubte. Daher sprach er von Gott nicht als von einem Abwesenden …“1 Schlatter war zunächst einmal – wie viele seiner Mitstudenten – von Becks persönlicher ­Ausstrahlung und der seelsorgerlichen Eindringlichkeit seiner Vorlesungen fasziniert: Becks Vorlesungen waren nicht nur intellektuell anspruchsvoll, sondern trafen „das Gewissen“ der Studierenden und riefen durch ihren heiligen Ernst ­„Herzklopfen hervor“. Ein Student erklärte freimütig: „In Becks Vorlesung gehe ich nicht mehr. Denn sonst müsste ich mein Leben ändern!“ Beck galt als begnadeter Seelsorger, der sogar bei psychisch schwerkranken Studenten erstaunliche Heilerfolge erleben durfte.

Schlatter war aber auch tief beeindruckt von der Bibeltheologie Becks. Beck überzeugte ihn sowohl von der substantiellen Zuverlässigkeit der Schrift als Fundament und Norm allen theologischen Denkens als auch von der tragenden Ganzheit und Einheit, die der unleugbaren Pluralität ihrer Aussagen zugrundeliegt. Zwar wurde Schlatter durch Beck nicht zum „Biblizisten“ (ein Etikett, das er lebenslang für sich ablehnte, weil er die Aufgabe systematischer Theologie nicht in der bloßen Reproduktion der Schriftinhalte sah), aber er wurde durch ihn zu jener falsche Alternativen überwindenden Theologie der Einheit angeregt, die sein exegetisches wie sein systematisches Schaffen kennzeichnet: In seiner Erforschung des Neuen Testaments wurde dies an Schlatters Bemühen deutlich, die innere Einheit des neutestamentlichen Kanons trotz der Unterschiedlichkeit der verschiedenen urchristlichen Überlieferungen aufzuzeigen. In seiner systematisch-theologischen Arbeit zeigte sich dies am Bestreben, vermeintliche dogmatische Gegensätze (z.B. Offenbarung und Vernunft, Gesetz und Evangelium, Gnade und Zorn Gottes, Rechtfertigung und Heiligung) in ihrer unauflöslichen komplementären Einheit zu verdeutlichen und so falsche dogmatische Alternativen zu vermeiden.2

Trotz aller Anregungen wurde Schlatter nicht zum „Schüler“ Becks. Sein in Tübingen eifrig betriebenes Lutherstudium schützte ihn davor, sich die unreformatorische, primär effektive Fassung von Becks Rechtfertigungslehre anzueignen, der die dem Menschen im Glauben zugeeignete Gerechtigkeit Gottes im Gegensatz zu den Reformatoren als „neue Naturanlage“ verstand.3 Und seine ausgeprägte Begabung für historische Zusammenhänge verwehrte es ihm, den ungeschichtlichen Ansatz von Becks Theologie zu übernehmen, die dem historischen Kontext der biblischen Offenbarungswahrheiten nicht gerecht wurde. So verließ er Tübingen nach drei Semestern zwar reich an empfangenen Impulsen, aber ohne einen Dogmatiker gefunden zu haben, der ihn „mit starker Hand bewegt hätte …“4 Nach einem abschließenden Semester in Basel legte er das theologische Examen ab, um den kirchlichen Dienst anzutreten. Weder sein hervorragendes Examensergebnis (er schloss alle Fächer mit der besten Note ab) noch ein verlockendes Angebot von Prof. Riggenbach, mit Hilfe eines groß­zügigen Stipendiums das theologische Lizentiat zu erwerben, ­konnte ihn davon abhalten, die Wissenschaft hinter sich zu lassen, um als Pfarrer „mit ganzem Ernst und heiliger Liebe daran zu arbeiten, dass unserem Volke die evangelischen Heilsgüter erhalten bleiben …“5 Denn eine starke Sehnsucht nach dem praktischen Dienst hatte ihn erfasst.

1

Ebd. 45.

2

Die grundlegende Bedeutung der Einheit in Schlatters Theologie zeigt I. Kindt, Der Gedanke der Einheit. Adolf Schlatters Theologie und ihre historischen Voraussetzungen, Stuttgart 1978.

3

Vgl. dazu H.-M. Rieger, Adolf Schlatters Rechtfertigungslehre und die Möglichkeit ökumenischer Verständigung, Stuttgart 2000, 28.

4

Rückblick auf meine Lebens­arbeit (s.o. Anm.5), aaO, 51.

5

Lebenslauf Adolf Schlatters an die Kirchenbehörde (Adolf-Schlatter-Archiv Nr. 151).

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