Adolf Schlatter: Leben, Werk, Wirkung

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Philosophie als konsequenter Realismus

Schlatter hat sich von früher Jugend an bis ins Alter auch mit philosophischen Fragen befasst, weil er von der hohen Bedeutung der Philosophie für die Theologie überzeugt war: „Der Theologe ist der philosophischen Bewegung stets ernste kritische Aufmerksamkeit schuldig, da die Probleme, die diese ­bearbeitet, nie willkürlich gebildet werden, sondern aus dem Tatbestand des menschlichen Lebens entstehen.“1 Schlatters intensive Beschäftigung mit der Philosophie hat seine theologische Arbeit nachhaltig beeinflusst. Besonders seine systematisch-theologischen Publikationen lassen auf Schritt und Tritt erkennen, dass hier die philosophischen Fragestellungen wirklich ernst genommen werden. Besonders deutlich wurde dies in Schlatters berühmter Vorlesung über „Die philosophische Arbeit seit Cartesius (Descartes)“ (Wintersemester 1905/6), die (in ihrer gedruckten Buchform) auch von Vertretern der zeitgenössischen Philosophie respektvoll und anerkennend beurteilt wurde. Noch einen Schritt weiter ging Schlatter in seiner 1915 verfassten „Metaphysik“, dem einzigen rein philosophischen Werk aus seiner Feder: Ausgehend von der Grundüberzeugung, dass die von Jesus „geschenkte Erlösung auch eine Erlösung zur Sachlichkeit und also zur Möglichkeit des ,Sehaktes‘ ist ,“2 wagte es Schlatter hier erstmals, seine eigenen philosophischen Grundüberzeugungen darzustellen. Sein Ziel war die Darlegung und Begründung eines philosophischen Realismus,3 d.h. eines Wirklichkeitsverständnisses, das den Grundstrukturen des Wirklichen möglichst umfassend gerecht wird, ohne den seiner Ansicht nach in der nichtchristlichen Philosophie üblichen Verkürzungen zu erliegen. Konkret bedeutete dies ein Wirklichkeitsverständnis, das die Welt als kontingente Schöpfung Gottes erkennbar werden lässt, die aus voneinander unableitbaren Seinsstufen (z.B. Natur und Geist) besteht, deren höchste Stufe der Mensch in seiner ontologischen Eigenart als personales Wesen ist. Im Grunde versuchte Schlatter, das biblische Wirklichkeitsverständnis in den Kategorien der Philosophie aus­zudrücken, auf die beobachtbare Realität zurückzuführen und seine auch für Nichtglaubende nachvollziehbare Plausibilität aufzuzeigen.

Mit diesem Versuch wollte Schlatter keineswegs die Selbständigkeit der Philosophie gegenüber der Theologie bestreiten. Er leugnete nicht, dass das ­Verhältnis dieser beiden Wissenschaften durch „Gabe und Gegengabe“ gekennzeichnet ist.4 Aber er sah sich durch die Entwicklung der vor- und nachchrist­lichen Philosophie in seiner Überzeugung bestätigt, dass die Philosophie ohne die konstruktiv-kritische Begleitung durch die christliche Theologie Gefahr läuft, sich bedenklichen Deformationen des Wirklichkeitsverständnisses zu öffnen. Schlatter teilte die Überzeugung des lutherischen Dogmatikers Peter Brunner, dass die Vernünftigkeit der menschlichen Vernunft ohne den christ­lichen Glauben bedroht ist.5 Der Dialog mit der Theologie aber kann der ­Philosophie helfen, das Ziel eines ideologiefreien philosophischen Realismus nicht zu verfehlen.

1

Die philosophische Arbeit seit Cartesius. Ihr ethischer und religiöser Ertrag,5 1981, 285.

2

So die treffende Charakterisierung von H. Thielicke, 15, in seinem Geleitwort zu: Adolf Schlatter, Die philosophische Arbeit seit Descartes, Stuttgart 41959, 7–21.

3

Jochen Waldorf hat diesen Sachverhalt im Titel seiner Dissertation über Schlatters Philosophie treffend zum Ausdruck gebracht: Realistische Philosophie. Der philosophische Entwurf Adolf Schlatters, Göttingen 1999.

4

Die philosophische Arbeit seit Cartesius, aaO, 185.

5

Vgl. P. Brunner, Gebundenheit und Freiheit theologischer Wissenschaft, 14f., in: P. Brunner, Pro Ecclesia. Gesammelte Aufsätze zur dogmatischen Theologie, Berlin/Hamburg 1962, 13–22.

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