Adolf Schlatter: Leben, Werk, Wirkung

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Theologie als ökumenischer Dienst am ganzen Leib Christi

Schlatters Theologie zeichnet sich durch eine bemerkenswerte ökumenische Weite aus.1 Schlatter war schon aufgrund seiner Herkunft und seines Werde­ganges dazu prädestiniert, sich für das geistlich-theologische Erbe verschiedener Kirchen zu öffnen: Durch die Konfessionsverschiedenheit seiner Eltern lernte er von Kindesbeinen an nicht nur seine reformierte Heimatkirche kennen, in der er getauft, konfirmiert und ordiniert wurde, sondern auch die vom Vater verkörperte baptistische Tradition. Auch wenn er den separatistischen Weg seines Vaters theologisch nicht akzeptierte, so war er doch bemüht, dessen biblisch berechtigte Motive (z.B. das Plädoyer für eine Aktivierung der Laien und die Notwendigkeit der Gemeindezucht) zu verstehen und positiv aufzunehmen. Eine weitere konfessionelle Öffnung ergab sich für Schlatter aus seiner intensiven Beschäftigung mit dem katholischen Philosophen Franz von Baader und der Begegnung mit dem lutherischen Theologen Hermann Cremer. Baader vermittelte ihm einen Eindruck von den theologischen Stärken des Katholizismus und Cremer brachte ihm das Luthertum nahe. Auch hier bemühte sich Schlatter mit großer Lernbereitschaft um eine Rezeption dessen, was ihm schriftgemäß schien, ohne deshalb zum Katholizismus zu konvertieren oder Lutheraner zu werden. Die mannigfaltigen Impulse, die Schlatter durch die Begegnung mit den verschiedenen Konfessionen erhielt, gaben seiner Theologie eine überkonfessionelle Weite, die zur damaligen Zeit ganz ungewöhnlich war. Es dürfte zu jener Zeit nicht viele Theologen gegeben haben, die in derart existentieller Weise wie Schlatter mit freikirchlicher, reformierter, lutherischer und katholischer Theologie und Frömmigkeit in Berührung kamen und zugleich bereit waren, sich von so verschiedenartigen konfessionellen Traditionen befruchten zu lassen.

Die Auswirkungen dieser ökumenischen Offenheit sind in Schlatters Werk überall mit Händen zu greifen. Auch wenn er sich als evangelischer Theologe dem reformatorischen Erbe bleibend verpflichtet wusste, hat er seine exegetische und systematische Arbeit zutiefst als Dienst am ganzen Leib Christi verstanden. Er wollte mit seinen Veröffentlichungen einen Beitrag leisten „zu der Überwindung des schweren Risses, der die protestantischen und die katholischen Kirchen voneinander trennt.“2 Denn er war – längst vor dem Beginn eines organisierten ökumenischen Dialoges – der Überzeugung: „Die Zerspaltung der Kirche soll als das behandelt werden, was überwunden werden muss. Nur dann ist der konfessionelle Charakter der Theologie legitimiert.“3 Diese Auffassung bedeutete nicht, dass Schlatter die Konfessionalität der Theologie (d.h. ihre Gebundenheit an ein Identität stiftendes Bekenntnis) geleugnet hätte. Er hat im Gegenteil das innere Recht der Reformation nie bestritten. In einem bloß rückwärts gewandten konfessionalistischen Protestantismus aber sah ­Schlatter eine große Gefahr, „weil er das Bußwort nur an die andern Kirchen richtet, dagegen sich selbst von ihm befreit Damit nimmt man der Reformation ihr Recht, weil man kein Recht hat, anderen Buße zu predigen, wenn man sie sich selbst nicht zumutet.“4

Die innere Ermächtigung und Verpflichtung zu einer ökumenisch geöffneten Theologie ergab sich für Schlatter folgerichtig aus seiner Bindung an die Heilige Schrift: Da die Wahrheit des Neuen Testaments den Bekenntnisstand aller christlichen Kirchen weit überragt, sind alle Kirchen dazu verpflichtet, für eine Reinigung und Ergänzung ihrer bisherigen Wahrheitserkenntnis im Sinne einer vertieften Aneignung der Schrift Sorge zu tragen.

Schlatters Konzept von Theologie als Dienst am ganzen Leib Christi dürfte heute auf weit mehr Verständnis stoßen als zu seinen Lebzeiten. Zum Gemeingut christlicher Theologie ist es freilich längst noch nicht geworden. Ich denke, dass Schlatters Werk auch in dieser Hinsicht einen fruchtbaren Beitrag für die gegenwärtige Theologie leisten kann.

1

Zum ökumenischen Aspekt von Schlatters Theologie vgl. meinen Aufsatz „Die ökumenische Bedeutung der Theologie Adolf Schlatters“, in: K. Bockmühl (Hg.), Die Aktualität der Theologie Adolf Schlatters, Gießen 1988, 71–92 und die Ausführungen in meinem zweiten Referat zum Verständnis von Geschichte bei Adolf Schlatter in Kapitel III.6.

2

Rückblick auf meine Lebens­arbeit (s.o. Anm. 5), aaO, 236.

3

Vorlesung „Einführung in die Theologie“ (1924). Mitschrift von E. Mülhaupt (Adolf-Schlatter-Archiv Nr. 808/5).

4

Das christliche Dogma, ­Stuttgart 41984, 414f.

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