Adolf Schlatter: Leben, Werk, Wirkung

Druckansicht

Der Höhepunkt der Wirksamkeit in Tübingen (1898–1938)

Schlatters Hoffnungen sollten sich in vollem Umfang erfüllen. In Tübingen verbrachte er die letzten 40 Jahre seines Lebens und erlebte den Höhepunkt seiner akademischen Lehrtätigkeit. Zwar verhielten sich die württembergischen Theologiestudenten (im Unterschied zu den norddeutschen!) zunächst recht reserviert gegenüber dem als extrem „konservativ“ geltenden Neuankömmling. Doch schon nach wenigen Jahren hatte sich die Situation gründlich verändert und in späterer Zeit besuchten Schlatters Vorlesungen teilweise über 600 Zuhörer!

Einen tiefen Einschnitt in Schlatters Leben bedeutete der frühe Tod seiner Frau, die 1907 – erst 51 Jahre alt – gänzlich unerwartet an einer Operation starb und ihm zwei Söhne und drei Töchter im Alter von 15 bis 22 Jahren hinterließ. Durch den Heimgang seiner Frau sah sich Schlatter wie nie zuvor vor die Ewigkeit ­gestellt. Er gewann den Eindruck, dass es für ihn Zeit sei, „fertig zu machen, was begonnen ist.“1 In den nächsten sieben Jahren fasste er daher den bisherigen Ertrag seiner theologischen Arbeit in vier großen Bänden zusammen: Zunächst legte er seine zweibändige Neutestamentliche Theologie („Das Wort Jesu“ und „Die Lehre der Apostel“) und dann eine Zusammenfassung seines systematischen Denkens („Das christliche Dogma“ und „Die christliche Ethik“) vor. Alle vier Bände stießen auf starke Beachtung – teilweise auf großen Beifall, teilweise aber auch auf Unverständnis und Kritik, da Schlatter konzeptionell sehr eigenständige Wege ging, die vielen Positionen der zeitgenössischen Theologie widersprachen. Die Dogmatik rief viel Anerkennung hervor, aber auch Erstaunen wegen ihrer als wegweisend empfundenen Zusammenschau von biblischer Wahrheit und Wirklichkeitserkenntnis, von kreatürlicher und geistlicher Existenz. Sie hat eine nicht zu unterschätzende Tiefenwirkung entfaltet: So erlebte beispielsweise Paul Schneider, der 1939 (noch vor dem 2. Weltkrieg!) als erster evangelischer Pfarrer durch die Nazis den Märtyrertod erlitt, unter dem Einfluss dieser Dogmatik eine tiefgreifende theologische Wende. Während die zeitgenössischen Ethiken heute längst vergessen bzw. nur noch Spezialisten bekannt sind, wurde Schlatters Ethik noch 50 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen im „Deutschen Ärzteblatt“ (einer keineswegs christlichen medizinischen Fachzeitschrift) ausgerechnet wegen ihrer Modernität und Aktualität empfohlen und befindet sich inzwischen – ca. 90 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung – noch immer auf dem Buchmarkt!

Schlatters schloss die Zusammenfassung seiner bisherigen Lebensarbeit im Jahre 1915 durch die Niederschrift einer „Metaphysik“ ab, die seine philosophischen Grundüberzeugungen zur Darstellung brachte. Dieses eigenartigste und schwierigste seiner Werke versuchte aufzuzeigen, dass das Kommen Jesu in die Welt auch das philosophische Denken auf eine neue Grundlage gestellt habe, sodass gewisse Engführungen der vorchristlichen Philosophie nun durch ein realitätskonformeres Wirklichkeitsverständnis überwunden werden könnten. Schlatter konnte sich aber trotz des energischen Drängens seines Freundes Wilhelm Lütgert nicht entschließen, das Werk zu veröffentlichen, sodass es erst fast 50 Jahre nach seinem Tod (1987) gedruckt wurde.

Der Hintergrund für Schlatters Weigerung war die furchtbare Eskalation des 1. Weltkrieges, dem schon im Oktober 1914 sein Sohn Paul zum Opfer gefallen war. Der Tod seines Sohnes und das in diesem Ausmaß völlig unerwartete Massensterben der Studenten stürzte Schlatter in die tiefste und anhaltendste Niedergeschlagenheit seines Lebens: Tief betrübt schrieb er Wilhelm Lütgert: „… Einsamkeit, Kriegsdruck, …, Erinnerung an die Ungezählten, die auch ein Teilchen meiner Lebensarbeit mit sich ins Grab nahmen, liegt lähmend auf mir … Die Zukunft liegt im Dunkel … Bei mir ists Herbst, welkendes Laub, das fällt, ob dazwischen auch noch ein Apfel fällt bleibt ungewiss.“2 So kam es dazu, dass Schlatters zweifellos schwierigstes Werk erst ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod (1987) veröffentlicht wurde.

Trotz der geschilderten Phase der Niedergeschlagenheit bemühte sich Schlatter, das Grauen des Krieges im Licht des Glaubens zu bewältigen. Für mich als Biographen war es eine der eindruckvollsten Aspekte seines Lebens, (z.B. anhand seiner persönlichen Briefe) wahrzunehmen, wie sehr sich Schlatter auch in der Zeit des Krieges von der Gegenwart und Fürsorge seines Gottes getragen wusste und der Grundton des Lobpreises Gottes nie verstummte. Inmitten aller Kriegswirren hielt Schlatter unerschütterlich an der Gewissheit fest: „Wir werden geleitet, nicht von einer unbekannten Hand, sondern von der gnädigen Hand des guten Hirten …“3

Nach Ausbruch des ersten Weltkrieges konzentrierte sich Schlatter in seiner Lehrtätigkeit ganz auf die Auslegung des Neuen Testaments. Er beeindruckte seine Studenten durch ungeheuer lebendige, weitgehend frei vorgetragene Vorlesungen und nicht zuletzt durch seinen staunenswertes Gedächnis: Nach glaubwürdigen Zeugen konnte er das gesamte Neue Testament auf Griechisch auswendig, sodass er in den Vorlesungen stets aus dem Kopf zitierte. Sein Bemühen galt dem Ziel, die Studenten zu einer strengen und konzentrierten Textbeobachtung zu erziehen, die sowohl die historisch-philologische als auch die theologisch-pneumatische Seite der Schrift in den Blick bekommt. Nach Wilhelm Lütgerts Bericht war das Faszinierende für die Studenten „nicht irgendeine Einzelheit oder eine Schule bildende Methode“, sondern die Tatsache, dass „bei Schlatter die Exegese nicht nur Philologie, sondern Theologie“ war.4 Besondere Hervorhebung verdient, in welch beispielhafter Weise sich Schlatter durch tägliche Sprechstunden und wöchentliche „Offene Abende“ um die menschlich-seelsorgerlichen Bedürfnisse seiner Studenten kümmerte. Nur wenige zeitgenössische Theologieprofessoren boten den Studierenden in solchem Maß neben der theologischen Wegweisung auch Lebensberatung an. Dass Schlatter von vielen Studenten nicht nur als theologischer Lehrer, sondern zugleich als „Vater in Christo“ empfunden wurde, dürfte vor allem auf dieses ungewöhnliche Maß an Lebensbegleitung zurückzuführen sein.

Die Entwicklung der systematischen Theologie war nach dem 1. Weltkrieg vor allem durch das Aufkommen der Dialektischen Theologie geprägt. Schlatters Reaktion auf den Neuansatz der Dialektischen Theologie war zwiespältig: Einer­seits teilte er manche der Bedenken, welche von der Dialektischen Theologie gegen die sog. „Theologie des 19. Jahrhunderts“ geltend gemacht wurden (z.B. die Kritik am Anthropozentrismus Schleiermachers oder am verbürgerlichten Kulturprotestantismus) und begrüßte ausdrücklich die erneute Hinwendung zur Bibel und zur reformatorischen Theologie. Andererseits aber meinte er in der frühen Dialektischen Theologie Tendenzen wahrzunehmen, die eine bedenkliche Reduktion des Wirklichkeitsverständnisses (durch mangelndes Ernstnehmen von Schöpfung, Natur und Geschichte) und eine erhebliche Verkürzung des Schriftzeugnisses (durch Reduktion des Offenbarungsbegriffs auf die Christusoffenbarung, durch die Vernachlässigung von Pneumatologie und Ethik und eine irrationalistische Loslösung des Glaubens von der Vernunft) zur Folge hatten.

Erst 1930 – im 78. Lebensjahr! – stellte Schlatter nach über 100 Semestern seine akademische Lehrtätigkeit ein! In den letzten Jahren konnte er die ­Vorlesungen nur noch unter Aufbietung aller körperlichen Kraftreserven halten. Die ihm noch verbleibende Lebenszeit nutzte er, um mit der Abfassung seiner neun ­großen Kommentare zum Neuen Testament die „Ernte“ seiner lebenslangen exegetischen Studien einzufahren. In seinen „Erläuterungen zum Neuen Testament“ hatte er bereits viele Jahre zuvor – als einziger Neutestamentler dieses Jahrhunderts – das ganze Neue Testament für einen größeren Leserkreis ausgelegt.

Das Aufkommen des Nationalsozialismus verfolgte Schlatter mit großer Sorge. Im Unterschied zu vielen evangelischen Mitchristen hatte er vor 1933 ein volles Ja zur Weimarer Demokratie und setzte sich als Berater einer christlichen Partei (dem „Christlich-sozialen Volksdienst“) für eine soziale Politik auf der Basis des christlichen Menschenbildes ein. Umso misstrauischer beobachtete er das Erstarken der nationalsozialistischen Bewegung: Schon 1931 – als nur wenige Deutsche die drohende Gefahr erkannten – meinte er, dass die Kirche vom ­Nationalsozialismus „im besten Falle wohlwollende Toleranz zu ­erwarten“ habe.5 Nach der Machtergreifung verstärkten sich seine Befürchtungen angesichts der zunehmenden Militarisierung und Beseitigung der Rechtstaatlichkeit. Bereits im Juni 1933 sah er für die deutsche Christenheit einen „Weg schweren Leidens“ voraus.6 Leider nicht in gleicher Deutlichkeit nahm der über 80-Jährige die Bedrohung des zeitgenössischen Judentums wahr. Dass Hitlers soziale und rechtliche Diskriminierung des Judentums letztlich auf dessen Vernichtung zielte, war für Schlatter – wie für viele Deutsche – außerhalb des Vorstellbaren. Aber er lehnte die NS-Rassenideologie und die gegen das Judentum gerichteten Rassegesetze ebenso entschieden ab wie das national­sozialistische Euthanasieprogramm. Sein letztes großes Werk schrieb Schlatter aus tiefer ­Sorge um den weiteren Weg des deutschen Volkes, den er aufgrund des nationalsozialistischen Antichristentums zutiefst gefährdet sah. Es ist ein ­Andachtsbuch mit dem bezeichnenden Titel „Kennen wir Jesus?“, in dem Schlatter den Lesern noch einmal eindringlich Jesus Christus vor Augen zu malen suchte als die einzig tragfähige Grundlage für das Leben des Einzelnen und des Volkes. Am 19. Mai 1938 schloss der 85-Jährige für immer die Augen. Ein Leben war zu Ende gegangen, das mit ganzer Hingabe der biblischen Erneuerung von Theologie und Kirche gewidmet war.

Als Schlatter im Mai 1938 verstarb, empfanden viele Menschen, dass mit ihm nicht nur ein großer „Lehrer der Kirche“, sondern auch ein „Vater in Christo“ abgerufen wurde, dem viele Entscheidendes für ihr Glaubensleben verdanken. Man wird in der Tat Schlatters Bedeutung erst dann hinreichend erfassen, wenn man seinen spirituellen Einfluss auf ganze Generationen von Theologiestudenten und Pfarrern mitberücksichtigt. Schlatter gehörte gewiss zu jenen Lehrern der Kirche, die nicht allein durch ihre Lehrtätigkeit, sondern ebenso durch die prägende Kraft ihres geistlichen Wirkens zu Zeugen der biblischen Wahrheit wurden. Friedrich von Bodelschwingh d.J. würdigte den Verstorbenen auf der Beerdigungsfeier am 23. Mai mit den Worten: „Mir selbst und vielen meiner Mitarbeiter ist ein Führer zu Christus geworden. Er erschloss uns die innerste Sprache des Neuen Testaments. Er zeigte uns den Dienst der Kirche. Immer, wenn wir an ihn dachten, stand vor uns das Bild eines Mannes, der frei und fruchtbar geworden ist, weil Gottes Evangelium in ihm lebt.“ Bodelschwingh schloss mit den in die Zukunft weisenden Worten: „Wir nehmen von diesem Grab den Auftrag mit, dafür zu sorgen, dass das, was Adolf Schlatter der Kirche zu sagen hatte, zu neuer Fruchtbarkeit und bleibender Wirkung kommt.“7

1

Brief an Friedrich Barth v. 21.6.1908 (Adolf-Schlatter-Archiv Nr. 1234).

2

Brief an Wilhelm Lütgert v. 18.10.1915 (Adolf-Schlatter-Archiv Nr. 421).

3

Brief an die Geschwister v. 20.12.1915 (Adolf-Schlatter-Archiv Nr. 455).

4

W. Lütgert, Adolf Schlatter als Theologe innerhalb des geistigen Lebens seiner Zeit. Eine Festga­be der Beiträge zur Förderung christlicher Theologie ihrem Begründer zum 80. Ge­burtstag dargebracht, BFChTh 37 (1932), H. 1, 21f. (Hervorhebung W.N.).

5

Brief an Sohn Theodor v. 8.2.1931 (Adolf-Schlatter-Archiv Nr 1229).

6

Brief an Sohn Theodor v. 26.6.1933 (Adolf-Schlatter-Archiv Nr. 1229).

7

Bodelschwingh, Fr. v. d. J., … daß ich vollende meinen Lauf mit Freuden, 41, in: Adolf Schlatter zum Geden­ken, Bethel 1938, 39–41.

dst@dst.tux4web.de info@dadadada.de