Adolf Schlatter: Leben, Werk, Wirkung

Druckansicht

Das rabbinische Judentum als Verstehenshorizont des Neuen Testaments.

Als Adolf Schlatter seine akademische Lehrtätigkeit begann, war die Kenntnis des rabbinischen Judentums in der neutestamentlichen Wissenschaft weithin sehr gering: Man ignorierte die talmudische Literatur und stützte sich fast ausschließlich auf die griechisch erhaltenen jüdischen Quellen. Schlatter dagegen gewann schon in seiner Berner Zeit die Überzeugung, dass die Gedankenwelt des Neuen Testaments religionsgeschichtlich erst auf dem Hintergrund des palästinischen Judentums hinreichend verstanden werden kann. Schlatter hat dieser Erkenntnis, mit der er zunächst weitgehend allein stand, in seiner Forschungsarbeit in hohem Maße Rechnung getragen. In den folgenden Jahrzehnten entstanden eine ganze Reihe von größeren und kleineren Arbeiten zum Judentum in neutestamentlicher Zeit, die Schlatter zu einer der „ersten Autoritäten auf diesem Gebiet der Religionsgeschichte“ werden ließen.1 In ­historischer Hinsicht verdient besondere Hervorhebung seine noch immer ­lesenswerte Gesamtdarstellung der „Geschichte Israels von Alexander dem Großen bis Hadrian“ (1899). In ihr bemühte sich Schlatter einerseits, „den Boden“ zu beschreiben, „auf dem Jesus und die Seinen ihren Dienst Gottes vollbracht haben“, und andererseits, einen Beitrag zum besseren Verständnis des Judentums zu leisten. Denn er war der zu seiner Zeit noch nicht sehr verbreiteten Auffassung, dass „auf der Seite der Kirche … viel alte Schuld zu tilgen“ sei und dass „ein selbstgefälliger Rückblick auf das Verhalten der Kirche gegen Israel … völlig falsch“ wäre.2 Aber auch seine bahnbrechenden Studien zum ­jüdischen Historiker Josephus (z.B. seine umfangreiche Monographie „Die Theologie des Judentums nach dem Bericht des Josefus“) dürfen in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, sind sie doch Frucht einer fünf Jahrzehnte andauernden gründlichen Beschäftigung, die Schlatter zum vermutlich besten Josefus-Kenner seiner Zeit werden ließ!3

Es liegt auf der Hand, dass Schlatters lebenslange mit immensem Einsatz betriebenen Spezialstudien zur Geschichte und Theologie des palästinischen Judentums seine neutestamentlichen Arbeiten stark beeinflusst haben. Wohl kein Neutestamentler des 20. Jahrhunderts hat in seinen Kommentaren in solchem Ausmaß zeitgenössische jüdische Quellen herangezogen wie er. Schlatters Ausgangsthese aber, nach der das Neue Testament ohne Kenntnis des pharisäischen und rabbinischen Judentums historisch nicht ­angemessen interpretiert werden kann, ist heute allgemein anerkannt, auch wenn sie längst nicht immer genügend beherzigt wird.

1

Jeremias, J., Geleitwort zu: A. Schlatter, Synagoge und Kirche bis zum Barkochba-Auf­stand, Stutt­gart 1966, 5.

2

Geschichte Israels von ­Alexander dem Großen bis Hadrian, Stuttgart 21904, 4.

3

Zu den in Schlatters Nachlass befindlichen zahlreichen handgeschriebenen Josefus-Bänden gehört u.a. zweibändiges, von ihm selbst erstelltes 1280 Seiten umfassendes Josefuslexikon! Vgl. dazu W. Neuer, Adolf Schlatter (s.o. Anm.5), aaO, 698f.

dst@dst.tux4web.de info@dadadada.de