Adolf Schlatter: Leben, Werk, Wirkung

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Theologische Auslegung als Ziel der historischen Exegese

Schon in seiner Berner Zeit war Adolf Schlatter darum bemüht, eine Exegese zu betreiben, die dem menschlich-historischen und göttlich-pneumatischen Doppelcharakter der Schrift gerecht wird. Dies hatte für ihn die Konsequenz, dass er das Recht der in der zeitgenössischen Exegese verwendeten historischen Methodik grundsätzlich anerkannte, soweit diese nicht durch unsachgemäße ideologische Vorentscheidungen (z.B. das Hegelsche Geschichtsverständnis oder ein rationalistisches Wirklichkeitsverständnis) bestimmt war. Allerdings betrachtete Schlatter die historische Forschung nur solange als konstruktiven Bestandteil der theologischen Arbeit, als sie im Dienste der eigentlich theologischen Auslegung stand. Die zeitgenössische Exegese litt seiner Ansicht nach vielfach unter dem Mangel, dass „die Historik die Theologie verschlungen hat“1 Eine ausschließlich historisch-kritische Exegese aber müsse notgedrungen „erkältend, lähmend“ oder gar „zerstörend“ wirken, weil sie eine echte Begegnung mit der Schrift verhindere.2

Dem doppelten Ziel einer sowohl historischen wie theologischen Auslegung waren alle seine großen exegetischen Werke verpflichtet. Dies gilt z.B. für seine große Monographie „Der Glaube im Neuen Testament“ (1885), die man wohl ohne Übertreibung als eine der bedeutendsten Abhandlungen zum Glauben seit der Reformation bezeichnen darf. Nach dem Urteil des Tübinger Neutestamentlers Peter Stuhlmacher ist dieses Werk in seiner „systematischen Geschlossenheit und historischen Präzision“ bis heute „unübertroffen“ ist.3 Dies gilt nicht minder für seine zweibändige „Theologie des Neuen Testaments“ (1909/10), die gerade dadurch Verwunderung hervorrief, dass Schlatter hier nicht nur wie üblich die historischen Unterschiede der neutestamentlichen Schriften darstellte, sondern zugleich die große theologische Einheit herausarbeitete, welche die Vielfalt dieser Traditionen umschließt und den neutestamentlichen Kanon zum einheitlichen und verlässlichen Fundament für Kirche und Theologie werden lässt. Die enge Verbindung von historischer und theologischer Exegese gilt schließlich auch für seine an einen großen Leserkreis gerichteten ursprünglich 13 (später 10) Bände „Erläuterungen zum Neuen Testament“ (1887–1910) als auch seine für neun großen wissenschaftlichen Kommentare zu Matthäus (1929), Markus (1935), Lukas (1931), Johannes (1930), zum Römerbrief (1935), zu den Korintherbriefen (1934), zu den Pastoralbriefen (1936), zum 1. Petrusbrief (1937) und zum Jakobusbrief (1932), von denen einige4 wohl zu den besten Kommentaren gehören, die in unserem Jahrhundert geschrieben wurden. All diese Auslegungen neutestamentlicher Bücher haben eben dadurch einen geradezu klassischen Rang erhalten, dass sie nicht bei der historisch-philologischen Erklärung stehen blieben, sondern vor allem den theologischen Gedankengang der Schriften herauszuarbeiten suchten.

1

Die Förderung des theologischen Unterrichts. Referat bei der Jahresversammlung der 44. schweizerischen-reformierten Predigergesellschaft in Schaffhausen (16./17.8.1887), Schaffhausen 1888, 107.

2

Ebd. 110f. Zu den Problemen und Gefährdungen der historisch-kritischen Exegese in Schlatters Sicht s.u. mein zweites Referat über das Verständnis von Geschichte bei A. Schlatter (III.4.).

3

P. Stuhlmacher, Zum Neudruck von Adolf Schlatters „Der Glaube im Neuen Testament“, VIII, in: A. Schlatter, Der Glaube im Neuen Testament, Stuttgart 61982, V-XIII.

4

Besonders hervorzuheben sind m.E. die Kommentare zum Matthäus­evangelium, zum Römerbrief, zu den Korintherbriefen und zum Jakobusbrief.

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