Adolf Schlatter: Leben, Werk, Wirkung

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Wirkung

Schlatters Lebenswerk entzieht sich aufgrund seiner Eigenständigkeit und Vielseitigkeit einer einfachen „Einordnung“. Die von ihm ausgehenden Impulse haben daher in fast allen Bereichen der Theologie anregend gewirkt, und zwar oft über die üblichen theologischen Polarisierungen hinaus und (vor allem in den letzten zehn Jahren) über die Grenzen der deutschsprachigen evangelischen Theologie hinweg.1 Schlatters Einfluss auf die Theologiegeschichte ist nicht zu unterschätzen, aber schwer überschaubar: Denn auch viele, die theologisch in der einen oder anderen Hinsicht andere Wege gegangen sind, haben wesent­liche Anregungen aus seinem Werk empfangen. Erstaunen weckt, dass Schlatter noch immer derjenige Theologe seiner Generation ist, der mit über 30 Titeln am häufigsten auf dem gegenwärtigen deutschsprachigen Buchmarkt vertreten ist. Diese Präsenz versteht sich insofern keineswegs von selbst, weil Schlatters Werke in sprachlicher, methodischer und inhaltlicher Hinsicht meist als schwierig empfunden werden.

Am unbestrittensten ist heute seine Bedeutung als Neutestamentler und als Pionier in der Erforschung des neutestamentlichen Judentums. Namhafte Neutestamentler der letzten Jahrzehnte haben wesentliche Anregungen aus Schlatters Werk positiv aufgenommen und weitergeführt: z.B. Otto Michel (1903–1994), Karl-Heinrich Rengstorf (1903–1992), Julius Schniewind (1883–1948) und (in neuerer Zeit) Leonhard Goppelt (1911–1973), Martin Hengel (geb. 1926) und Peter Stuhlmacher (geb. 1927).

Dass Schlatter auch als Systematiker Beachtung verdient, wurde zu seinen Lebzeiten von Theologen aller Lager unumwunden anerkannt, ist aber vor allem durch den immer mehr dominierenden Einfluss der Dialektischen Theologie seit den 1920er Jahren mehr und mehr in den Hintergrund getreten. Schlatter hat nachweislich etliche bedeutende systematische Theologen des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt [Wilhelm Lütgert (1867–1938), Hans Emil Weber (1882–1950), Paul Althaus (1988–1966)] oder nicht unwesentlich beeinflusst [Friedrich Brunstäd (1883–1944), Dietrich Bonhoeffer (1906–1945), Emil Brunner (1889–1966), Adolf Köberle (1898–1990), Wolfgang Trillhaas (1903–1995) und (in neuerer Zeit) Klaus Bockmühl (1931–1989)].

Darüberhinaus hat Schlatter auch Theologen anderer Disziplinen beeinflusst: Dies betraf beispielsweise namhafte Kirchenhistoriker wie Karl Holl (1866–1926) und Heinrich Bornkamm (1901–1977), praktische Theologen wie Renatus ­Hupfeld (1879–1968) und Karl Fezer (1891–1960), den Missionstheologen und ­Chinamissionar Wilhelm Oehler (1877–1966), und mehrere kirchenleitende Persönlichkeiten des deutschsprachigen Protestantismus wie F. von Bodelschwingh d.J. (1877–1946), Theophil Wurm (1868–1953) und Kurt Scharf (1902–1990).

Die skizzierten Nachwirkungen Schlatters geben einen Eindruck davon, dass der Tübinger Theologe einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die neuere Theologiegeschichte ausgeübt hat. Die von uns herausgearbeiteten Punkte zur bleibenden Bedeutung von Schlatter Werk legen nahe, dass Schlatters Lebensarbeit auch in Zukunft noch fruchtbare und wegweisende Impulse für Kirche und Theologie zu geben vermag. Für den Schriftausleger Schlatter ist diese Einschätzung bereits weithin zum Konsens geworden. Dass Schlatter auch als Systematiker heute noch (oder auch wieder!) ernsthaftes Gehör verdient, ist das beinahe einhellige Ergebnis der Schlatter-Forschung der letzten 30 Jahre, die vor allem aufgrund der umfassenden Heranziehung des (lange Zeit unbeachtet gebliebenen) Nachlasses unsere Kenntnis von Schlatters Leben und Werk erheblich erweitert hat. Es entspricht ganz dieser Einschätzung, wenn der Wuppertaler Dogmatiker Johannes von Lüpke kürzlich das Fazit zog: „Es dürfte an der Zeit sein, auf Schlatters Theologie zurückzukommen, um in den gegenwärtigen Diskussionen weiterzukommen.“2 Ähnlich äußerte sich unlängst der Heidelberger Systematiker Wilfried Härle: „Es gibt bei Schlatter eine ganze Reihe von Denkansätzen, die ich für anregend und zukunftsweisend halte …“3

Nachdem ich nun schon seit etwa 25 Jahren Gelegenheit habe, Schlatters Leben und Werk zu erforschen, kann ich mich diesen Urteilen nur anschließen. Gewiss bedarf Schlatters Lebensarbeit – wie die eines jeden Theologen – auch der Korrektur, Ergänzung und Weiterführung. Aber angesichts der biblischen Tiefe, der menschlichen Weite und der geistlichen Reife seines Lebenswerkes wird man sich bedenkenlos das Fazit des katholischen Theologen Franz Mußner zu eigen machen können: „Schlatter gehörte zu jenen Lehrern der Kirche, deren Stimme in ihr nicht verstummen darf.“4

Dr. Werner Neuer

1

Besondere Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang Japan, Korea und die USA: a) In Japan kam es schon 1976 zur Publikation von Schlatters „Erläuterungen zum Neuen Testament“, die nach Auskunft des leitenden Übersetzers Dr. Kazuo Hasumi „von den japanischen Gemeinden, und zwar sowohl von Theologen als auch von Laien, sehr begrüsst“ wurden.(vgl. seinen Vortrag auf dieser ­Konferenz). Außerdem wurde Schlatters Andachts­buch „Kennen wir Jesus“ ins Japanische übersetzt. b) Für das in Korea in den letzten Jahren entstandene Interesse an Schlatter ist die Internationale Schlattertagung der Seoul Jang sin Universität ein eindrücklicher Beleg. Nachdem meine kleine Schlatter­biographie (W. Neuer, Adolf Schlatter, Wuppertal 1988) bereits seit 2002 in koreanischer Sprache übersetzt von Ho Han vorliegt, sind für die nächsten Jahre weitere Übersetzungen von Originalwerken Schlatters (z.B. seiner „Erläuterungen zum Neuen Testament“) geplant. c) In den USA sind im letzten Jahrzehnt erstaunlich viele englische Übersetzungen von Werken Schlatters erschienen: 1995 Schlatters Römerbriefkommentar Romans. The Righteousness of God. Translated by S.S. Schatzmann. Foreword by Peter Stuhlmacher, Peabody 1995, 1997 und 1999 beide Bände von Schlatters Theologie des Neuen Testaments (in einer Übersetzung von A.J.Koestenberger): The Hi­story of the Christ, the Foundation for New Testament Theology, Grand Rapids 1997; The Theology of the Apostles. The Development of New Testament Theology, Grand Rapids 1999. 1997 veröffentlichte R.W.Yarbrough eine Übersetzung und Kommentierung von Schlatters Aufsatz „Die Bedeutung der Methode für die theologische Arbeit“: The Southern Baptist Journal of Theology1 (1997/2), 64–76. 1996 erschien die Übersetzung meiner kleinen Schlatterbiographie Adolf Schlatter, Wuppertal 1988 von R.W.Yarbrough: Adolf Schlatter. A Biography of Germany’s Premier ­Biblical Theologian. Foreword by Mark Noll, Grand Rapids, deren Anhang die Übersetzung von zwei Schlatter-Aufsätzen „Die Theologie des Neuen Testaments und die Dogmatik“ und „Atheistische Methoden in der Theologie“ und einem Kapitel aus seiner Dogmatik §54: „Das Gebet“ enthält. Hinzu kommen etliche Beiträge, die das Vorhandensein einer eigenständigen amerikanischen Schlatterforschung belegen: S.F.Dintaman, Creative Grace. Faith and History in the Theology of Adolf Schlatter, New York 1993; R.W.Yarbrough: The heilsgeschichtliche Per­spective in Modern NT Theology, Diss.masch. Aberdeen 1985; Adolf Schlatter’s „The Significance of Method for Theological Work: Translation and Commentary, in: The Southern Baptist Journal of Theology1 (1997/2) 64–76; Adolf Schlatter, Historical Handbook of Major Biblical Interpreters (hg. v. D.K.McKim), Downers Grove 1998, 518–523; Adolf Schlatter, Bible Interpreters of the Twentieth Century (hg. v. W.Elwell), Grand Rapids 1999, 59–72; Modern Reception of Schlatter’s New Testament Theology, in: The Theology of the Apostles, aaO 417–431 (s.o. Anm.5); „Schlatter, Adolf (1852–1938)“, in: The Dictionary of Historical Theology (hg. v. T.A. Hart), Carlisle UK/Grand Rapids 2000, 505–507 und A.J.Koestenberger, Preface: The Reception of Schlatter’s New Testament Theology 1909–23, in: ebd. 9–22.

2

Vorwort zu: A. Schlatter, Glaube und Wahrnehmung (hg. v. J. v. ­Lüpke), Stuttgart 2002

3

Vorwort zu J. Walldorf, ­Realistische Philosophie. Der philosophische Entwurf Adolf Schlatters, Göttingen 1999, 5.

4

F. Mußner, Geleitwort, III, zu: A. Schlatter, Der Brief des Jakobus, Stuttgart 31985, VI–XIV.

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